Fliegen im Winter? Da gibts doch keine Thermik und ist es ist nicht viel zu kalt?

Zugegeben, eine Landung am Strandcafé nach einer Stunde entspanntem Soaring in kurzer Hose und t-Shirt hat was. Aber bist du schon mal (auf gut gespurtem Weg!) durch den tief verschneiten Wald in völiger Stille vom Mummelsee zum Katzenkopf gewandert, begleitet vom magischen Licht- und Schatten-Spiel der Wintersonne, um dann abzuheben über strahlendes Weiss bizarr verschneiter Tannen in tiefblauen Himmel, getragen von sanftem Soaring-Wind?

Fliegen im Winter ist zwar speziell, aber auch speziell schön. Die folgenden Zeilen sind ein Plädoyer fürs Winterfliegen mit einigen Tips, deren Beachtung sich lohnt.

Winterwetter

Jede Jahreszeit hat ihre flugmeteorologischen Besonderheiten: Im Herbst und Winter sind es zunächst der kurze Tag und die flach stehende Sonne, damit entwickelt sich Thermik nur in einem begrenzten Zeitfenster und eher schwach. Es gibt sie trotzdem, denn damit sich Luft vom Boden abheben und aufsteigen kann, braucht es nur einen genügend großen Temperaturunterschied zwischen aufgewärmter Oberfläche und Umgebung. Da die Luft im Winter kalt ist, kann sich über geeignteten Flächen diese Temperaturdifferenz sogar sehr gut entwicklen, z.B. über schneefreien Nadelbäumen, über Ortschaften, Gewerbe- und Industrieanlagen, Parkplätzen neben Schneeflächen und sogar über eisfreien Gewässern bei Minusgraden.

Drei positive Effekte: die Thermik ist oft angenehmer als im Frühling und Sommer, damit weht auch der Wind zum Soaren gleichmässiger, weil nicht durch thermische Ablösungen verwirbelt. Zudem gibt es im Tal meist nur schwachen oder gar keinen Wind und dementsprechend sehr gut kalkulierbare Landebedingungen.

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Die Thermikschwache Zeit ist aber nur kurz: schon im Februar steigt die Sonne wieder steiler, die Tage werden länger und die Aufwinde legen spürbar zu. In der Pfalz hatten wir im Januar und Februar 2023 wunderschöne Flugtage mit guter, sanfter Thermik und ordentlicher Basishöhe. Viel angenehmer als im vorangegangenen Sommer!

Die Sache mit dem Soaringwind ist speziell, genauso die Interpretation der Wetterprognosen im Verhältnis zur warmen Jahreszeit. schau dir doch dazu mal unseren Artikel zum Winterwind an >

Ein weiterer Unterschied zur wärmeren Jahreshälfte: es gibt manchmal lange instabile Wetterlagen, also wechselhaftes »Sauwetter« mit Niederschlag und viel Wind. Kurze, das Grau in Grau unterbrechende Zwischenhochs, können aber schöne, nebelfreie Soaring- oder Thermiktage sein.

Ändert sich dann die Großwetterlage zum Hoch, dominiert meist ein straffer Ostwind, dazu gerne mit markanter Inversion und Windscherung. Wer etwas höher auf den Berg geht, erlebt alldings gerade dann genialen Soaringwind bei klarer Luft und bester Sicht. Zusatzvorteil: die Bergbahnen sind überall in Betreib bis hoch hinauf und neben Skipisten gibt es viele gute Startplätze.

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Im Flachland oder MIttelgebirge entschädigt ein Hike durch verschneiten Winterwald mit anschließendem Genussabgleiter für die kalte Nase nach der Landung. Und auch ohne Schnee Zauber ist jeder Flug ein Flug, ein Start, eine Landung, Training, gut für die Routine und gut für die Seele. Erinnern wir uns doch bei großen Flugträumen im Winter ab und zu mal an unser unbeschreibliches Gefühl beim ersten Mal Abheben am Übungshang!

Kleidung & Equipment

Selbstredend ist die richtige Kleidung für Spass beim Winterfliegen essentiell. Zum Beispiel die passenden Handschuhe (übrigens auch im Frühling aktuell und sowieso im Hochgebirge ein Ganzjahresthema). Dicke Handschuhe vermitteln das Gefühl, weniger Gefühl für die Steuerung unseres Flügels zu haben. Auf den ersten Blick vielleicht, aber warm und eingeschlauft steuert es sich deutlich gefühlvoller als mit erfrorenen Fingern. Die gibt es bei unpassender Handbekleidung sozusagen im Flug.

Probier also ruhig mal die dicken Fäustlinge (z.B. von Camp) oder etwas dünnere in Kombi mit Wärmepads. Perfekt sind natürlich beheizbare Fingerhandschuhe (z.B. von Zanier, auch bei uns zu erwerben) und wer garantiert nie mehr frieren will ohne Akkuaufladen, der findet eine gute Lösung mit den Stulpen von Windsriders. Die Handhabung derselben ist zwar gewöhnungsbedürftig, der Wärmeeffekt dafür aber himalayatauglich.

Ein paar dünne Zusatz-Handschuhe bewähren sich zum Auspacken und Leinensortieren, das Zwiebelprinzip (dünn drunter, dick drüber) will sorgfältig erprobt sein, es kann auch schnell zu eng werden um die Finger und dann schnell zu kalt wegen gestörter Durchblutung. Eine Mütze ist am Startplatz ebenso hilfreich wie eine Sturmhaube unter dem Helm im Flug und / oder ein Halsduch. Heißer Tee aus der Thermoskanne steigert das Wohlgefühl beim Warten auf den passenden Wind ebenso wie nach der Landung.

Ansonsten bewährt sich alles, was wärmt, wenig wiegt und Bewegungsfreiheit lässt. Vor allem in Kombi mit einem Hike ist das Zwiebelprinzip erste Wahl. Lieber t-Shirt + Fleece + Softshell + leichte Jacke als t-Shirt + dicke Skijacke.

Zum Schutz der Augen kann die sommerliche Sonnenbrille zu dunkel sein, Skibrillen tun hier sehr guten Dienst. Es gibt auch welche mit speziell weitem Gesichtsfeld. Als Zusatzeffekt bleibt das Gesicht wärmer. Und noch was: während das vollverkleidete Gurtzeug beim Fliegen unangefochten seine Trümpfe ausspielt, hätte man doch beim Startabbruch im tiefen Schnee lieber den Sitzgurt dabei gehabt.

Wenn du zuhause den Flügel zum trocknen lüftest, schau auch nach, ob Gurtzeug und Rettung es ebenfalls nötig haben. Nach einem Startabbruch könnte das Retterfach Schnee geschaufelt haben.

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Fliegen - und ein wenig Physik

Im Winter nehm ich doch mal meine alte Tüte, wird ja sowieso feucht und gerne etwas dreckig? Feucht ja, aber gerade deswegen lieber den aktuellen Flügel mitnehmen. Warum? Kältere Luft hat eine höhere Dichte, ergo ist bei gleichem Auftrieb unsere Fluggeschwindigkeit geringer und damit der Bremsweg zum Strömungsabriss kürzer. Um es mal als Zahl zu benennen: bei + 15°C und Normalluftdruck liegt unsere Trimmgeschwindikeit etwa bei 36 km/h, bei -6°C beträgt sie nur noch ca. 30 km/h. Das mag nach wenig aussehen, hat aber große Wirkung! Wenn dazu das Tuch noch feucht ist und damit sackfluganfälliger, dann segelt ein neuerer Flügel in jedem Fall sicherer durch die Luft als ein alter Lappen.

Die geringere Geschwindigkeit erweist sich fürs Abheben wiederum als Vorteil, d.h. ich muss beim Start deutlich weniger beschleunigen (ca. 3-4 km/h), was im Schnee und bei schwachem oder keinem Wind erhebliche Vorteile bedeutet.

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Dass im Winter meine Abflugmasse meist schwerer wiegt als im Sommer, erweist sich ebenfalls positiv. Höheres Fluggewicht bedeutet höhere Flächenbelastung und dies wiederum ergibt eine höhere Fluggeschwindigkeit, welche ihrerseits dem (zu) langsam Fliegen etwas entgegenwirkt. Und keine Angst vor geringer Überladung: erstens ist es in der kalten Jahrezeit weniger turbulent als in der warmen, ergo ergibt sich eine deutlich geringere Klapptendenz. Die Auswirkungen einer Störung sind ebenfalls harmloser, weil Dynamik durch Masse multipliziert mit dem Quadrat der Geschwindigkeit definiert ist und damit bei weniger Geschwindigkeit deutlich weniger Dynamik bei Störungen aufkommt.

Also zusammengefasst: Bremsen beim Gleiten offen lassen, Kurvenflug mit offener Aussenbremse und eher den aktuellen Flügel nehmen als die alte Tüte aus dem Keller.

Fazit

Fliegen in der kalten Jahreszeit bietet andere Herausforderungen als der Sommer - und andere Chancen! Mit angepasster Kleidung und Augenmerk auf ein paar Besonderheiten ist Fliegen im Winter wunderschön. Für mich ist es ein besonderes Geschenk, den Himmel zu allen Jahrezeiten zu erleben, auch und vor allem zu Hause, ohne in die Ferne reisen zu müssen. Und es erinnert mich gelegentlich daran, wie einzigartig das einfache Abheben, Schweben und wieder Ankommen ist.

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